Tor der Gedenkstätte Buchenwald

Thüringen Wie Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus in Zukunft gehen kann

Stand: 29.04.2025 05:00 Uhr

Wenn die Zeitzeugen verstummen, wie kann dann Gedenken beispielsweise an den Zweiten Weltkrieg oder die Verbrechen im Nationalsozialismus gelingen? Die Forderungen reichen von "Vergangenheit vergehen lassen" bis zum Pflichtbesuch in KZ-Gedenkstätten von Konzentrationslagern. Ein Gespräch mit Prof. Stefanie Middendorf (Universität Jena) und Prof. Jens Christian Wagner (Direktor Stiftung Gedenkstätten Buchenwald/Mittelbau-Dora).

Von Dagmar Weitbrecht, MDR THÜRINGEN

Stefanie Middendorf würde den Begriff "Erinnern" beiseitelassen. Erinnerung kann es nur an etwas selbst Erlebtes geben. Heute setzt sich die vierte oder fünfte Generation mit dem Nationalsozialismus auseinander. Auch Jens Christian Wagner tut sich mit dem Wort "Erinnerung" schwer. Wagner meint: "Wenn ich dann sage, erinnert euch, dann sieht man förmlich den erhobenen Zeigefinger und das wirkt nicht unbedingt lernfördernd für junge Menschen."

Beide Wissenschaftler sind sich einig, es braucht neue Konzepte für die Auseinandersetzung mit dem Thema. Wagner wünscht sich "eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte mit dem Lernen, wenn nicht aus, aber dann zumindest an der Geschichte".

Middendorf stellt die Frage: "Was brauchen wir eigentlich an Wissen über die Vergangenheit, um mit diesen gegenwärtigen Problemen oder Erfahrungen umzugehen?"

Jens-Christian Wagner: Mann mit kurzen grauen Haaren im Jacket mit Schlips vor einem roten Gebäude mit Uhrturm

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Weimar

Rolle von Oma oder Opa im Nationalsozialismus ist ein Tabuthema

Wagner stellt Fragen, deren Antworten bis heute unbequem sein können. In vielen Familien ist das Thema Nationalsozialismus und die Rolle der Oma oder des Opas ein Tabuthema. Doch zu fragen:

"Warum wurden Menschen zu Opfern, wer hat sie zu Opfern gemacht? Denn die wurden ja nicht quasi automatisch zu Opfern, sondern es waren handelnde Personen, die sie zu Opfern gemacht haben. Und wenn das handelnde Menschen waren, muss man fragen, was diese Menschen eigentlich angetrieben hat. Die Täter und Täterinnen, die Mittäter und Mittäterin, aber auch die Profiteure der Verbrechen."

Gerade in Familien, in denen alternative Geschichten erzählt werden, also die eben nicht der Realität entsprechen oder die wieder sozusagen das, was wir eigentlich für überwunden gehalten haben, wieder quasi neu aufkommt und neu erzählt wird. Stefanie Middendorf |

Middendorf beobachtet, dass "gerade in Familien alternative Geschichten erzählt werden, also die eben nicht der Realität entsprechen oder die wieder sozusagen das, was wir eigentlich für überwunden gehalten haben, wieder quasi neu aufkommt und neu erzählt wird."

Im Klartext sind das Aussagen wie: "Im Nationalsozialismus ist nicht alles schlecht gewesen." oder "Mein Opa hat niemanden erschossen."

Prof. Dr. Stefanie Middendorf von der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Prof. Dr. Stefanie Middendorf: Inhaberin des Lehrstuhls für Neueste Geschichte / Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Studie: 40 Prozent der deutschen Jugendlichen wissen wenig über den Holocaust

Für pädagogisch betreute Gedenkstättenbesuche in Buchenwald und Mittelbau-Dora gibt es für Schulkassen inzwischen Wartelisten. Schon allein deshalb lehnt Wagner Pflichtbesuche, wie es sie bis 1989 in der DDR gegeben hat, ab. Er geht davon aus: "dass nicht mangelndes Wissen das Hauptproblem ist, sondern dass das vorhandene Wissen nicht geschichtsbewusst angewandt wird. Dass die Gegenwartsbezüge nicht hergestellt werden".

Also wir müssen am Geschichtsbewusstsein arbeiten und eben nicht nur Fakten vermitteln. Geschichtsbewusstsein ist etwas anderes als Faktenvermittlung. Es ist das Bewusstsein dafür, dass mein eigenes Ich historisch verankert ist, dass unsere ganze Gesellschaft historisch verankert ist. Jens Christian Wagner |

In dem Augenblick, wenn die Fragestellung erweitert und der Gegenwartsbezug gesucht wird, machen viele Jugendliche dicht. "Also wir müssen am Geschichtsbewusstsein arbeiten und eben nicht nur Fakten vermitteln. Geschichtsbewusstsein ist etwas anderes als Faktenvermittlung. Es ist das Bewusstsein dafür, dass mein eigenes Ich historisch verankert ist, dass unsere ganze Gesellschaft historisch verankert ist", so Wagner.

Das passiert ja in den 30er-Jahren nicht nur in Deutschland, sondern es passiert in vielen europäischen Gesellschaften, die geraten in diesen Sog, wie wir ihn gegenwärtig vielleicht auch beobachten können. Grenzen des Sagbaren werden verschoben, autoritäre Figuren tauchen auf. Stefanie Middendorf |

Middendorf, die an der Universität auch Lehrer für Geschichte ausbildet, sieht schon die Vermittlung von Geschichtswissen als wesentlichen Punkt. Sie sieht aber auch die Notwendigkeit, mit dem Wissen zur Geschichte des Nationalsozialismus in die aktuelle Gegenwart zu schauen. Beispielsweise auf das "Kippen" von Gesellschaften.

"Das passiert ja in den 30er-Jahren nicht nur in Deutschland, sondern es passiert in vielen europäischen Gesellschaften, die geraten in diesen Sog, wie wir ihn gegenwärtig vielleicht auch beobachten können. Grenzen des Sagbaren werden verschoben, autoritäre Figuren tauchen auf", so Middendorf. Sie verweist darauf, dass es Gesellschaften geschafft haben, sich diesem Sog zu widersetzen und Demokratien erhalten haben.

Die letzten Überlebenden über die Befreiung des KZ Buchenwald

Aktuelle Weltlage forciert die Gedenkfrage

Das Ende der Zeitzeugenschaft werde einen fundamentalen Wandel auch für die Erinnerungskultur haben, sagt Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner. Das Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager in Thüringen und es Ende des Zweiten Weltkrieges finde in schwierigen Zeiten statt. Es schwinde das Bewusstsein dafür, wie fundamental die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur für die demokratischen Strukturen sei.

Vielleicht ist das wirkliche Ende der Nachkriegsordnung nicht 1990, sondern jetzt gekommen, weil die liberale transatlantische Nachkriegsordnung vor dem Ende steht. Jens Christian Wagner |

Auch der Blick auf die internationale Bühne zeige die Problematik. Wagner sagt mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und auf die USA unter Präsident Donald Trump: "Vielleicht ist das wirkliche Ende der Nachkriegsordnung nicht 1990, sondern jetzt gekommen, weil die liberale transatlantische Nachkriegsordnung vor dem Ende steht."

Gedenkstätte Buchenwald - Kranzniederlegung

MDR (dw/jn)